Das Echtzeitlabor der Energiewende

Um den klimafreundlichen Netzbetrieb von der Niederspannung bis zur Höchstspannung interaktiv zu erleben, haben Forscherinnen und Forscher am Fachgebiet „Energieversorgungsnetze und Integration Erneuerbarer Energien“ (SENSE) der TU Berlin eine neue Labor-Plattform geschaffen. Damit steht nun ein System bereit, das Studierenden den derzeitigen Netzbetrieb und den Netzbetrieb der Zukunft nahebringt. Und die Erforschung des Netzbetriebs der Zukunft ermöglicht.

Das Echtzeitlabor der Energiewende

Um den klimafreundlichen Netzbetrieb von der Niederspannung bis zur Höchstspannung interaktiv zu erleben, haben Forscherinnen und Forscher am Fachgebiet „Energieversorgungsnetze und Integration Erneuerbarer Energien“ (SENSE) der TU Berlin eine neue Labor-Plattform geschaffen. Damit steht nun ein System bereit, das Studierenden den derzeitigen Netzbetrieb und den Netzbetrieb der Zukunft nahebringt. Und die Erforschung des Netzbetriebs der Zukunft ermöglicht. 

Hintergrundbild: ©ahnenenkel.com/Silke Reents

Auf Flavio Gromanns „Klick“ mit der Maus antwortet das Labornetz mit einem satten Klack. Klick–Klack. Gromann hat das Labornetz des „Smart Grid Labors“ an der TU Berlin mit dem Stromnetz der Stadt verbunden und damit die Stromquelle des Labornetzes angeschaltet. Klick–Klack, geht der erste Verbraucher ans Netz, ein Einfamilienhaus. Dem Geräusch der Maus folgt ein metallischer Sound, wie bei einem schweren elektrischen Schalter. Klick–Klack, ist auch die Batterie-Einheit verbunden. 

An dem Großbildschirm im Smart Grid Labor setzt Flavio Gromann ein Netzelement nach dem anderen in Betrieb. Gromann ist Doktorand (sein Thema: Optimierung und Steuerung von Energiesystemen der Sektoren Elektrizität, Wärme/Kälte und Mobilität) und betreut zusammen mit seiner Kollegin Dr. Despina Koraki das „Echtzeitlabor der Energiewende“ im Projekt WindNODE.

Das Smart Grid Labor der TU Berlin ist die Basis, auf der sie aufbauen: Unter der Decke des Labors und durch die Büroräume des Fachgebiets „Energieversorgungsnetze und Integration Erneuerbarer Energien“, kurz SENSE, sind armdicke Kabel verlegt. Sie bilden hier im Erdgeschoss und in den Kellerräumen der Uni-Gebäude ein Stromnetz mit Batterieeinheiten, einer ganzen Reihe von schaltbaren Kühlschränken und Boilern, einer Solaranlage, Ladesäulen und einer Wärmepumpe. Die Stromkabel führen durch die Wände und biegen in den verschiedenen Räumen des Fachgebietes in mannshohe

beige Blechkisten ab, die aussehen wie große Schaltkästen: Diese Plug&Supply-Stationen liefern das „Klack“, wenn sie die unterschiedlichen Quellen und Verbraucher mit dem Labornetz verbinden. Und sie beherbergen die Messeinrichtungen, über die Flavio Gromann laufend Strom und Spannung der einzelnen Leitungen überwacht. Nebenan, in der großen Versuchshalle, sind noch eine Ladestation für Elektroautos installiert, eine Batterie-Testation und ein Teststand einer dezentralen Windkraftanlage. In der Nähe ein Schild: „Berühren nicht isolierter Teile verboten. Lebensgefahr!“

„Wir haben hier die letzten 100 Meter eines Niederspannungs-Verteilungsnetzes der Zukunft physisch realisiert“, erklärt Professor Kai Strunz das Zusammenwirken von Leitungen, Verbrauchern und Erzeugern, die man so oder ähnlich auch in einem gemischten Stadtquartier der Zukunft mit Wohnen und Gewerbe finden könnte. „Derzeit ergänzen wir diesen in physischer Hardware realisierten Netzabschnitt dank des auch vom BMWi geförderten Projekts EchtEWende im Sinne der Energiewende, so dass alle Komponenten über leistungselektronische Umrichter eingebunden werden“, und „wir erhalten so ein ganz durch Umrichter dominiertes Verteilungsnetz“, fügen Dr. Maren Kuschke und Stefan Häselbarth vom Fachgebiet SENSE hinzu. Als Teil des WindNODE-Arbeitspaketes 3 „Effiziente Betriebskonzepte für Stromnetze“ wurde die Informationstechnik des Labors so weiterentwickelt, dass die Energiewende hier von Laien, Studierenden und Experten auf verschiedenen Detailebenen erforscht werden kann.

Erlernen, Erleben, Erforschen

Erlernen, Erleben, Erforschen – so das Konzept des „Echtzeitlabors der Energiewende“. Hier wird nicht nur das SENSE-Labornetz betrieben und als Live-Grafik über eine Visualisierungsplattform lebendig gemacht, sondern auch das damit verbundene ganz reale Verteilungsnetz in Berlin, das Übertragungsnetz in der 50Hertz-Region in Ostdeutschland und die großen Stromautobahnen zwischen den Zentren der EU.

„Wir können hier verschiedene Netzzustände simulieren und untersuchen. Und zwar für verschiedene Ausbauvarianten des Netzes und der erneuerbaren Energien. Das können wir mit den Netzparametern von heute machen. Aber auch mit den Szenarien im Netzentwicklungsplan für das Jahr 2030 und sogar bis zur Klimaneutralität“, sagt Kai Strunz. Die Daten, die in die Simulationen und die Visualisierung fließen, sind teils Echtzeitdaten aus dem Labornetz. Und teils Daten von zurückliegenden Tagen im landesweiten Stromnetz, die aus öffentlich zugänglichen Netz- und Wetterdaten für die Berechnung der Einspeisung aus Windparks und Solaranlagen gezogen wurden.

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Offene Software vom CERN adaptiert und weiterentwickelt

Auf Flavio Gromanns Mausbefehl fährt das Netz hoch, und auf dem Großbildschirm auf der Stirnseite des Labor- und Kontrollraumes erscheint eine digitale Karte von Berlin. Ähnlich wie Google Maps. Als Gromann tiefer in die Stadt hineinzoomt, erscheinen die Gebäude der TU Berlin und dann das eigene Labor: Auf der Karte sind Leitungen zu sehen, die Google Maps nicht hat. Die in Hardware realisierte Ringleitung des Labornetzes erscheint – mit den einzelnen zugeschalteten Stromverbrauchern und Speichern. An den Messeinrichtungen der Ringleitung werden in jeder Sekunde bis zu 100 000 Werte für Ströme und Spannungen aufgenommen und dargestellt.

Zur Fahrweise im Echtzeit-Normalbetrieb wird der aktuelle Zustand des Gesamtnetzes im Sekundentakt aktualisiert und angezeigt. „Wir sehen auf der Benutzeroberfläche laufend die Auslastung der Leitungen und den Zustand der einzelnen Elemente“, sagt Gromann. In WindNODE wurden Überwachung und Steuerung mit einem quelloffenen SCADA-System realisiert.

SCADA steht für „Supervisory Control and Data Acquisition“, also ein Softwaresystem, das Daten von den Sensoren an allen Einheiten einsammelt, an ein zentrales System überträgt und zugleich Befehle an die Einheit überträgt, um diese zu steuern.

Früher gab es dazu an der TU Berlin ein kommerzielles SCADA-System, das viele Nachteile hatte: Jedes Mal, wenn das Fachgebiet das vorhandene Netz umbauen oder neue Geräte anschließen wollte, musste ein Techniker des Softwareanbieters gebucht werden.

Durch WindNODE kommt jetzt dieses quelloffene SCADA-System zum Einsatz: C2MON. Das System wurde ursprünglich am CERN entwickelt und überwacht dort rund 94.000 Sensoren, gibt Echtzeitdaten über die zahlreichen Support-Systeme aus und trägt somit zu einem reibungslosen Betrieb des Teilchenbeschleunigers bei. „C2MON“ steht für „CERN Control and Monitoring Platform“.

Hintergrundbild: ©ahnenenkel.com/Silke Reents

Software für die schier unendliche Menge an Daten aus dem Stromnetz

„Das System ist für uns einfach deshalb gut, weil wir hier unbegrenzt und ohne große Anpassung neue Einheiten in das Labornetz integrieren können“, erklärt Gromann. Durch die Open Source Lösung und die „tolle Kooperation“ mit den Softwareentwicklern am CERN könne die TU Berlin das System genau auf die Bedürfnisse des Netzbetriebs zuschneiden. C2MON überträgt dabei Steuer- und Messsignale aus unterschiedlichen Quellen an unterschiedliche Empfänger mit unterschiedlichen Schnittstellen-Protokollen. Im Rahmen von Dissertationen entstandene Optimierungs- und Steuerungsalgorithmen nutzen dieses System, um die Geräte im Labor zu steuern und zu überwachen. Gromann: „Die Vision ist ein Softwaresystem für Stromnetze, das eine fast unendliche Menge an dezentralen Einheiten per Drag and Drop einbinden, überwachen und steuern kann.“

Für Laien oder Gruppen von Studierenden wird dann sofort klar, wie das Netz auf den Einsatz von immer mehr Erneuerbaren reagiert. „Die Besucherinnen und Besucher können selbst entscheiden, welche Verbraucher und Erzeuger wir hier im Labornetz zuschalten“, sagt Despina Koraki, die sich in ihrer Doktorarbeit mit Engpässen und Flexibilitäten beschäftigte.

Je nach Auslastung verfärben sich die Leitungen: Von „Grün“ für eine Auslastung unter 50 Prozent der Nennleistung. Auf „Orange“ für Leitungen, die zwischen 50 und 70 Prozent ausgelastet sind. Bis hin zu „Rot“ für Werte jenseits der 70 Prozent.

Vom Niederspannungs-Labornetz zum Höchstspannungs-Übertragungsnetz

Dann verlässt Koraki am Großbildschirm das 380-V-Niederspannungs-Labornetz und die Mittelspannungs-Ebene des städtischen Verteilungsnetzes in und um die TU Berlin. Und zoomt sich mit wenigen Drehungen am Scroll-Rad der Maus hoch zum weiten 380-kV-Übertragungsnetz von 50Hertz.

Auf dem Bildschirm geht es jetzt zu wie in der echten Netzwarte von 50Hertz. In der Netzzone von WindNODE pulsieren die großen Stromleitungen in Grün und zeigen damit an: Alles OK. Unter der bunten Oberfläche liegen Daten von vergangenen Tagen, an denen besonders viel erneuerbare Energie im Netz war. Die Software durchläuft den Tag nun im Fast-forward-Modus und zeigt die 24 Stunden innerhalb von 15 Minuten.

Rot-Alarm in der Schorfheide

Gelegentlich springt eine Leitung zwischen Berlin und der nördlich gelegenen Schorfheide dabei auf Rot. Das heißt, dass ihre Kapazität ausgeschöpft ist - die Netzbetreiber müssen reagieren.

Dazu hat das Team an der TU Berlin an den nördlichsten und südlichsten Punkten dieser hochbelasteten Leitung jeweils einen identischen Stromspeicher aufgestellt – virtuell natürlich. Und die Besucherinnen und Besucher im SENSE-Labor können nun spielerisch lernen, wie sie so einen Batteriespeicher nutzen könnten, um die Stromtrasse zu entlasten. „Unsere Besucherinnen und Besucher verwandeln sich in Stromhändler, die entscheiden, ob und wie viele Megawatt sie mit ihren Speicherkraftwerken im Strommarkt anbieten wollen“, sagt Koraki. Der Rechner nimmt die neuen Werte auf und lässt die 24-Stunden-Simulation nun noch einmal durchlaufen. Jetzt zeigt sich, dass die eben noch rotfarbige Leitung durch den Speicher-Eingriff wieder auf Grün umgesprungen ist. Learning: Speicher können helfen, das Stromnetz zu stabilisieren.

„Das ist unser einfachstes Beispiel“, erklärt Koraki. Das Lernspiel wird nun komplizierter: Statt zwei gleich großer Speicher direkt an der überlasteten Leitung können die Besucherinnen und Besucher zwei weiter entfernte Speicher steuern – und merken schnell, dass der Einfluss ihrer Aktionen sehr abhängig von der Lage der Speicher im Netz ist. Manchmal gibt es keinen ausreichenden Einfluss mehr auf die überlastete Leitung. „Sensitivität“ nennt sich in der Sprache der Netzberechnung das Phänomen, wie sich der Einfluss der Lage von Verbrauchern und Stromerzeugern auf eine überlastete Stromleitung bemerkbar macht.

Simulation des Stromnetzes von morgen

Vom Erleben geht es weiter zum Erforschen. Beliebige Leitungen können in dem auf C2MON aufbauenden System hinzugefügt oder herausgenommen werden. Und auch immer mehr Speicher, Verbraucher und erneuerbare Energien können installiert und betrieben werden. „Das System wird immer anspruchsvoller. Und wir können hier erforschen, wie einzelne Einheiten Einfluss auf das Netz nehmen“, sagt Koraki.

Für einen Beispieltag sind Netzüberlastungen bei hoher Windeinspeisung in der WindNODE-Regelzone erkennbar. Bei der Korrektur kommen Flexibilitäten ins Spiel – und damit Speicher, Verbraucher oder Erzeuger, deren Leistungseinspeisung oder -entnahme flexibel angepasst werden kann.

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Von der Identifikation des Engpasses bis zu der Beschaffung von Flexibilität für das Engpassmanagement simuliert die Software am SENSE alle Schritte, um den Engpass auszugleichen – inklusive des Einkaufs von Flexibilität über eine Onlineplattform. In der Auswahlentscheidung für oder gegen Flexibilitäten spielen nicht nur angebotene Preise, sondern auch die oben erwähnten Sensitivitäten aus der Netzberechnung eine entscheidende Rolle. 

Das „Echtzeitlabor der Energiewende“ geht aber über das reine Stromnetz hinaus. Es zeigt einen Ausschnitt des Fernwärmenetzes im Berliner Westen. Dort gibt es bereits eine Power-to-Heat (PtH) Einheit im Kraftwerk Reuter-West,

wo Strom in großen Durchlauferhitzern in Wärme umgewandelt wird. In der Visualisierung kann der Durchlauferhitzer dort eingebunden werden, um Engpässe im elektrischen Netz aufzulösen. Gleichzeitig wird die Temperaturänderung im Fernwärmenetz simuliert. „Durch die Energiewende greifen Strom- und Wärmeversorgung immer stärker ineinander“, sagt Koraki. Diese sektorenübergreifende Eigenschaft wird so auch im Projekt EchtEWende weiterentwickelt.

Das „Echtzeitlabor der Energiewende“ ist als besuchbarer Ort ausgelegt. Während der Corona-Pandemie musste dieses Besuchsprogramm zuletzt weitestgehend ausfallen. „Immerhin konnten 2019 und 2020 aber schon über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Simulationen mit uns durchspielen“, erklärt Koraki.

Hintergrundbild: ©ahnenenkel.com/Silke Reents

3 Fragen an...

Flavio Gromann, M.Sc. Elektrotechnik und Doktorand am Fachgebiet „Energieversorgungsnetze und Integration Erneuerbarer Energien“ (SENSE) an der TU Berlin

Herr Gromann, was bringt Ihnen WindNODE?

Gromann: Die Stromnetze unterliegen einem neuen Paradigma. Früher hatten wir Großkraftwerke, die je nach dem Verbrauch im Netz ihre Leistung gehoben oder gesenkt haben. Das ändert sich: In Zukunft müssen wir mit flexiblen Speichern und der Verschiebung der Stromnachfrage auch auf die Millionen Solar- und Windenergieanlagen reagieren, denn unsere Stromproduktion hängt jetzt auch vom Wetter ab. In WindNODE konnten wir das Forschungslabor SENSE für interessierte Laien, Studierende und Experten aus der Energiewirtschaft öffnen. Man kann hier sehen, wie das Netz auf die fluktuierende Einspeisung von erneuerbaren Energien reagiert. Und wir können zeigen, wie wir Speicher und Stromverbraucher bis hin zum einzelnen Elektrofahrzeug so einsetzen, dass sie diesem neuen Netzparadigma dienen.

Die digitale Abbildung von Netzen ist ein Standardinstrument, das man auch in vielen Netzleitwarten bei den großen Netzbetreibern sehen kann. Was kann Ihre Netzsimulation, was andere nicht können?

Am Fachgebiet SENSE ist das digitale Modell des übergeordneten Netzes direkt mit einem physisch realisierten Verteilungsnetz im Labor gekoppelt, so dass wir dort Prototypen von Reglern direkt vor Ort umsetzen können. Auch das Berliner Fernwärmenetz ist Bestandteil der Betrachtung. Wir nehmen dabei stets klimafreundliche Lösungen mit 100 % erneuerbaren Energien ins Blickfeld. Dazu kommt, dass wir im Labor eine quellenoffene Software – C2MON – einsetzen. Damit sind wir in der Lage, unsere Simulation an viele denkbare Konstellationen anzupassen und für neue Ideen zu öffnen.

Wie können Externe – seien es Laien oder Forschende – in Zukunft auf diese Simulation zugreifen?

Unser Echtzeitlabor der Energiewende wird in der „Lange Nacht der Wissenschaften“ und an ca. drei weiteren Terminen pro Jahr besuchbar sein. Die Termine werden auf der Webseite des Fachgebiets SENSE veröffentlicht. 

Besuchbarer Ort

Echtzeitlabor Energiewende
TU Berlin
Fachgebiet „Energieversorgungsnetze und Integration Erneuerbarer Energien“ (SENSE)

Einsteinufer 11 (EMH-1)
10587 Berlin

Mail:

sekretariat@avoid-unrequested-mailssense.tu-berlin.de

TU SENSE

veröffentlicht am 29. März 2021

Text: ahnen&enkel/Marcus Franken

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