Mit Stromverbrauchern vor Ort die Leitung entlasten

Wenn Wind und Sonne zu viel Energie in die Stromnetze drücken, geraten manche Stromleitungen in den „roten Bereich“. Die WindNODE-Flexibilitätsplattform zeigt, wie Industrieanlagen oder Speicher vor Ort überschüssigen Strom direkt nutzen und so gezielt Stromleitungen entlasten können.

Mit Stromverbrauchern vor Ort die Leitung entlasten

Wenn Wind und Sonne zu viel Energie in die Stromnetze drücken, geraten manche Stromleitungen in den „roten Bereich“. Die WindNODE-Flexibilitätsplattform zeigt, wie Industrieanlagen oder Speicher vor Ort überschüssigen Strom direkt nutzen und so gezielt Stromleitungen entlasten können.

Hintergrundbild: © ahnenenkel.com/Silke Reents

Die Wetterfrösche hatten sie vor „Siglinde“ gewarnt, dem Sturm aus dem Norden. „Orkanartige Böen“ an der Küste, Windstärke 9 in Mecklenburg. Die Feuerwehren waren alarmiert. Am 22. Oktober 2018 ging es los, pünktlich abends um acht. 

Der perfekte Sturm für das WindNODE Arbeitspaket „Flexibilitätsplattform“.

Schon um 20:40 Uhr wechselten beim Stromnetzbetreiber 50Hertz die ersten Anzeigen für die Auslastung der Leitungen von Grün auf Orange, zuerst die 220-Kilovolt-Leitung von Neuenhagen nach Wustermark im Berliner Norden. Bei einer Auslastung von mehr als 50 Prozent der maximalen Last springt das Signal auf Orange, bei mehr als 70 Prozent schließlich auf Rot. Während des Sturmtiefs Siglinde konnte man live im Internet verfolgen, wie der Strom aus den Windkraftanlagen die Leitungen füllte und sich die Signalfarben änderten. Gegen 21:40 Uhr schaltete eine Höchstspannungstrasse bei Rostock auf Rot.

Zu viel Strom für zu wenige Maschinen

Der Grund: Wenn der Wind kräftig genug weht, stehen im Nordosten Deutschlands nicht genügend Industrieanlagen, Stromspeicher oder sonstige Verbraucher zur Verfügung, die mit dem riesigen Stromangebot etwas anfangen können. Das kommt vor. Gerade in den Nächten, wenn die Betriebe geschlossen sind und die Menschen schlafen. Dann laufen die Stromleitungen nach Süden heiß – im Wortsinn. Sie erwärmen sich, dehnen sich aus und hängen sichtlich durch. 

Etwa 30.000 Megawatt Leistung an Wind- und Solaranlagen gibt es im Höchstspannungsnetz von 50Hertz – das ist zwölfmal so viel, wie das Braunkohlekraftwerk „Boxberg“ in der Lausitz leisten kann.

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Wenn in sehr windigen oder windig-sonnigen Zeiten zu viel Erzeugung am Netz ist, werden erst die Kohlekraftwerke gedrosselt, danach müssen auch die Erzeuger von Erneuerbaren Energien vom Netz. „Einspeisemanagement“ heißt das, im Branchenjargon auch als „EinsMan“ bezeichnet. Dadurch bleibt der Betrieb der Netze sicher. Es gehen aber rund drei Prozent der möglichen Jahresproduktion an grünem Strom verloren. Und die Menschen wundern sich, wenn ausgerechnet bei schönstem Wind die Windräder stillstehen – „abgeregelt“ aufgrund von Netzengpässen. 

In der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober 2018, um 3:40 Uhr, zeigte die Karte des Netzbetreibers im Nordosten Deutschlands schon mehr Orange-Rot als Grün: Spätestens jetzt mussten Kohlekraftwerke von Rostock bis zur Schwarzen Pumpe im brandenburgischen Spremberg ihre Leistung drosseln. Auch ein Teil der Windräder auf der Ostsee, in Mecklenburg und Brandenburg wurde abgeschaltet.

„Wir hatten auf genau so eine Situation gewartet“, sagt Projektleiter Georg Meyer-Braune. Die Idee hinter der WindNODE-Flexibilitätsplattform: Bevor einzelne Stromleitungen heiß laufen, sollte dieser überschüssige Ökostrom besser zur richtigen Zeit direkt vor Ort verbraucht werden. Und wenn Betreiber von Batteriespeichern oder Industriebetrieben ihre Anlagen entsprechend steuern, soll es dafür einen finanziellen Anreiz geben. „Unsere Anlage kann morgen zwischen 22 Uhr und 23 Uhr ein Megawatt Strom zusätzlich verbrauchen“ – solche Angebote können sie auf der in WindNODE neu geschaffenen Plattform machen, die dann für die Netzbetreiber sichtbar werden und bei Engpässen im Stromnetz genutzt werden können. Über die Flexibilitätsplattform profitieren sie davon, dass sie den Betrieb des Stromnetzes sicherer und auch günstiger machen.

Bild: © ahnenenkel.com/Silke Reents

Regionale Abnehmer

Die Realisierung der Flexibilitätsplattform hat 50Hertz zusammen mit den Verteilnetzbetreibern Stromnetz Berlin, E.Dis Netz, Enso Netz und Wemag Netz vorangetrieben. In den ersten beiden Jahren des Projektes wurden dazu Prozesse definiert, die Plattform programmiert und die Produkte in Abstimmung mit potenziellen Anbietern von Flexibilität entwickelt.

Die Flexibilitätsplattform fungiert dabei als Vermittlungsplattform für Anlagen, die den Strom gezielt zum richtigen Zeitpunkt in der Nähe von besonders überlasteten Leitungen aus dem Netz nehmen können. Denn wenn der Strom direkt da verbraucht wird, wo die Windräder ihn in diesen Minuten oder Stunden erzeugen, dann taucht er in den besonders belasteten Stromleitungen von 50Hertz nicht mehr auf – und die Windräder und Solaranlagen müssen nicht mehr abgeregelt werden.

Das notwendige technische Potenzial zur Anpassung des Stromverbrauchs kann aus unterschiedlichen Anlagen stammen. Bei WindNODE haben diverse Anbieter mitgemacht: etwa ein Batteriespeicher in der Nähe von Brandenburg an der Havel, ein Nachtspeicherofen in der Nähe von Schwerin, eine Power-to-Gas-Anlage in der Uckermark, die aus Strom Wasserstoff herstellt. Mit dabei sind auch Industrieanlagen in Berlin und Kühlhäuser im Süden der Stadt, die große Kältemaschinen betreiben.

Eine Win-win-Situation

Zusammen mit den Betreibern dieser Anlagen haben die Forscher zunächst den Ablauf erarbeitet, nach dem auf der Flexibilitätsplattform online Angebote gemacht werden können: „Mit der Plattform stellen wir eine Nutzeroberfläche bzw. automatische Schnittstellen im Internet zur Verfügung, auf der Angebote unter Angabe von Zeitraum, elektrischer Leistung und Angebotspreis eingestellt werden können“, erklärt Meyer-Braune. Den Praxistest hat das System in der Sturmnacht des 22. Oktober und später bei ähnlichen Wetterlagen absolviert. 

Wirtschaftlich profitieren davon alle, die am Stromnetz hängen: Anbieter können durch die Bereitstellung von Flexibilität Geld verdienen. Die Kosten für den Netzbetrieb können gesenkt werden, das nützt letztlich allen gewerblichen und privaten Stromkunden. Also praktisch jedem einzelnen Haushalt. Und wenn weniger Windräder abgeschaltet werden müssen, profitiert davon der Klimaschutz.

Hintergrundbild: © ahnenenkel.com/Silke Reents

Es kommt auf die tatsächliche Wirkung im Netz an

In der Praxis ist der Einsatz von Speichern und flexiblen Lasten auch für die Stromnetzbetreiber kompliziert. Denn wenn etwa ein Batteriespeicher Strom bezieht, kommt das nur selten einer einzigen Leitung zugute. Wie stark so ein Batteriespeicher die Last in einer Leitung genau senkt, hängt davon ab, wie nah er an dieser Leitung steht und wo genau sich die Leitung im Netzwerk der Stromtrassen befindet. „Darum haben die Netzbetreiber ein Modell, mit dem für jede einzelne Anlage ein Faktor angeben wird – die sogenannte Sensitivität“, sagt Meyer-Braune.

Ein Beispiel: Eine Anlage, die in der Nähe einer überlasteten Leitung im Nordosten steht, wirkt fast zu 100 Prozent direkt auf diese Leitung. Sie hat darum eine Sensitivität von 1. Dieselbe Anlage im Zentrum von Berlin hätte kaum noch Einfluss auf die Leitung – ihre Sensitivität läge unter 0,1. „Wir können die Sensitivitäten für alle denkbaren Standorte berechnen. Im praktischen Netzbetrieb würde man die eingesetzten Anlagen dann so auswählen, dass sie die Netzbelastung optimal senken“, so Meyer-Braune weiter. Letztlich müsste sich der Sensitivitätsfaktor auch in der Vergütung abbilden. Damit wäre dann auch ein Anreiz geschaffen, Stromspeicher und Anlagen dort zu bauen, wo der meiste Strom herkommt: nämlich in der Nähe der Wind- und Solarparks.

Kooperation mit den Verteilungsnetzbetreibern

An dieser Stelle kommen dann auch die Betreiber der regionalen Netze ins Spiel. Teilweise treten auch im Verteilungsnetz Überlastungen auf. In diesem Fall kann der Verteilungsnetzbetreiber die Flexibilität nutzen, um die Belastung zu senken. Darum hat der regionale Verteilungsnetzbetreiber den ersten Zugriff auf die Gebote, die auf der Flexibilitätsplattform eingehen. Wenn er nicht die vollen Kapazitäten in Anspruch nimmt, kann der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz die verbleibende Kapazität nutzen, um die Überlastung des eigenen Netzes zu reduzieren.

Bei ihrem ersten Einsatz, 2018 während des Sturmtiefs Siglinde, hat die Flexibilitätsplattform ihre erste Bewährungsprobe innerhalb weniger Stunden bestanden. Beim Stromnetz dauerte es nach dem 22. Oktober allerdings noch fast zwei Tage, bis der Wind sich so weit beruhigt hatte, dass fast alle Leitungen von 50Hertz wieder auf Grün standen.

Seitdem hat die Flexibilitätsplattform in vielen Fällen gezeigt, dass sie funktioniert: Die Anbieter haben ihre Angebote eingestellt und die Netzbetreiber haben sie genutzt, um damit die Leitungen zu entlasten. „Die Systeme haben reibungslos zusammen gearbeitet und wir hätten die Angebote an Betreiber von Speichern und Maschinen sogar noch weiter ausbauen können“, sagt Meyer-Braune.

Aus Angebot wurde Pflicht

Die Flexibilitätsplattform war startklar. Mit der Novelle des Netzausbaubeschleunigungsgesetzes (NABEG) im Jahr 2020 haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen grundlegend verändert. Ab Oktober 2021 sind alle Erzeugungsanlagen und Stromspeicher ab 100 kW bzw. alle Anlagen mit einer Ansteuerungsmöglichkeit verpflichtet, ihre Flexibilität den Netzbetreibern zur Heilung von Netzengpässen zur Verfügung zu stellen. Darunter fallen z.B. auch die Batteriespeicher, die sich auf der der WindNODE-Plattform eingetragen haben. Das Potenzial an Anlagen für die Flexibilitätsplattformen, die auf marktlichen Anreizen für die freiwillige Bereitstellung von Flexibilität beruht, hat dadurch schlagartig abgenommen.

Was für den freien Handel mit Flexibilität noch bleibt, sind z.B. industrielle Anlagen, die ihre Produktion mit dem (Über‑)Angebot an grünem Strom verknüpfen möchten. „Anders als bei Batterien können hier aber Kosten für Überstunden oder Fertigungsprobleme auftreten, wenn der Zeitpunkt des Strombezugs verschoben wird“, sagt Georg Meyer-Braune. Diese Kosten seien – anders als bei Batteriespeichern – nur sehr schwierig zu bestimmen.

Ein großer Teil des Flexibilitätspotenzials, das mit dem WindNODE-Projekt Flexibilitätsplattform erschlossen werden sollte, ist nun entweder bereits gesetzlich zur Teilnahme an dem Prozess verpflichtet oder bei den flexiblen Lasten besteht das ungelöste Problem von potenziellen Fehlanreizen. Solche Fehlanreize können dadurch entstehen, dass Anbieter einen wirtschaftlichen Anreiz dazu hätten, durch ihr Verbrauchs- bzw. Erzeugungsverhalten Situationen mit Netzengpässen zu verstärken oder erst hervorzurufen, um dann mit der gleichen oder einer anderen Anlage die Beseitigung des Engpasses zu unterstützen und dabei Geld zu verdienen. Bisher sind Lösungen zur Eindämmung dieses Problems kaum sinnvoll handhabbar. Vor diesem Hintergrund wurde entschieden, dass die Plattform nach dem Ende der Projektlaufzeit zunächst nicht weiter betreiben wird.

Der Ansatz zur Schaffung lokaler Anreize über eine Plattform könnte jedoch in Zukunft bei noch deutlich höheren Anteilen Erneuerbarer Energien bzw. wenn eine Lösung für das Fehlanreizproblem gefunden ist, neue Relevanz entfalten. Die technische Basis für die Handelsplattform steht dann bereit.

3 Fragen an...

Dr. Georg Meyer-Braune, Projektleiter WindNODE 50Hertz, Energiewirtschaft

Was hat Ihnen die Zusammenarbeit im WindNODE-Projekt gebracht?

Die Zusammensetzung eines großen Konsortiums mit unterschiedlichen Partnern ist in dieser Weise nur in einem Forschungsprojekt wie WindNODE möglich. Nur hier können Unternehmen, unabhängig von operativen Prozessen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten, eine solche partnerschaftliche und vertrauliche Kooperation aufbauen.

Welche Erfolge werden bleiben?

Wir werden solche regionalen Flexibilitätsmärkte im Strommarkt der Zukunft möglicherweise auch neben den gesetzlich verpflichteten Bereichen brauchen. Die Flexibilitätsplattform in WindNODE hat das vorbereitet. Dabei ist gerade auch die Zusammenarbeit von Übertragungsnetz- und Verteilungsnetzbetreibern nun schon vorbereitet. Daran kann man anknüpfen.

Wo kann man sich die Ergebnisse des Projekts ansehen?

Experten finden die Ergebnisse in WindNODE-Dokumenten wie dem Synthesebericht „Flexibilitäten, Markt und Regulierung“. Und für alle Interessierten gibt es im Atrium von 50Hertz einen „besuchbaren Ort“, eine Ausstellung mit Virtual-Reality-Modulen, die das Thema Bewirtschaftung von Netzengpässen sehr anschaulich macht. Hier und im Netz ist zudem eine Karte mit der Netzbelastung in der Regelzone von 50Hertz zu finden, mit der jeweils aktuellen Auslastung jeder einzelnen Leitung im Übertragungsnetz.

Weitere Infos zum besuchbaren Ort

veröffentlicht am 02. Dezember 2020

Text: ahnen&enkel/Marcus Franken

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